Graz: 'Beihilfe zum Suizid ist kein Menschenrecht'

vonRedaktion Salzburg
DEZEMBER 23, 2020

Foto: © Stadt Graz/Fischer

Erklärung der Grazer Menschenrechtsstadt-Bürgermeister Alfred Stingl und Siegfried Nagl

2001 hat sich Graz als erste europäische Stadt mittels eines einstimmigen Beschlusses des Gemeinderats zur "Menschenrechtsstadt" erklärt. Dies ist ein ausdrückliches Bekenntnis der Stadt, sich in ihrem Handeln "von den internationalen Menschenrechten leiten [zu] lassen," die insbesondere die unteilbare Würde jedes einzelnen Menschen als nicht verhandelbar definiert.

Umso deutlicher fällt der gemeinsame Appell der Grazer Menschenrechtsstadt-Bürgermeister Alfred Stingl (1985 bis 2003) und Siegfried Nagl (seit 2003) zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes, Beihilfe zum Suizid nicht mehr unter Strafandrohung zu stellen, aus. Diese "de facto also zu legalisieren, ist bei allem Respekt, den wir diesem Höchstgericht entgegenbringen, nicht nachvollziehbar", heißt es in der Erklärung. Hier würden "Türen geöffnet, die mit der Würde des Menschen nicht vereinbar sind, die jeder sozialen Verantwortung widersprechen und das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht über das Recht auf Leben stellt. Individuelle Autonomie und gesellschaftliche Verantwortung werden durch dieses Urteil in nicht nachvollziehbarer Weise aus jeglicher Balance gebracht."

'Ärzten und Pflegepersonal vertrauen'

Das Verfassungsgerichtshof -( VfGH)-Urteil sehen die Menschenrechtsstadt-Bürgermeister als "Freibrief, Sterbenden nicht mehr bis zuletzt hilfreich beizustehen, sondern deren Leben beabsichtigt und vermeidbar zu verkürzen". Bestärkt sehen sie sich in ihrem Urteil durch Erfahrungsberichte aus der Schweiz oder den Niederlanden. Diese würden zeigen, dass viele Sterbenskranke einem massiven Druck ausgesetzt seien, ihren Angehörigen nicht länger "zur Last zu fallen".

Und: "Die Höchstrichter haben mit ihrer Entscheidung aber auch jenen keinen Dienst getan, an die künftig der Wunsch nach einer solchen Hilfe herangetragen wird. In unserem Land dürfen wir den Ärzten und dem Pflegepersonal vertrauen, dass der Respekt vor dem Leben – auch im Sterben – von Menschlichkeit und Anteilnahme geprägt ist. Betroffene Angehörige – meist sind Frauen davon betroffen – sollen durch spürbares Mittgefühl merken, dass die Gesellschaft an ihrer Seit steht."

Mit dem VfGH-Urteil werden für Stingl und Nagl keine "bürgerlichen Freiheitsrechte gestärkt, sondern der Staat verabschiedet sich in nicht hinnehmbarer Weise von seiner Verantwortung als Garant für Schutz und Sicherheit."

Sorge um 'Geschäftsmodell'

Einer holländischen Studie von Anfang 2020 zufolge nannten 56 Prozent aller, die einen Sterbewunsch äußerten, „Einsamkeit", 42 Prozent die Sorge, "zur Last zu fallen" und 36 Prozent "Geldmangel" als Grund dafür. Unter diesen Vorzeichen sei es "mehr als berechtigt, hier auch ein 'Geschäftsmodell' zu befürchten, bei dem die Interessen selbst bereits von schwer Erkrankten sehr rasch in den Hintergrund treten werden", heißt es in der Erklärung der beiden Menschenrechtsstadt-Bürgermeister.

Und: "Die breite Allianz in der Kritik an dieser Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes von den Religionsgemeinschaften über die Behindertenorganisationen bis zur Ärztekammer darf daher in keinem Fall unberücksichtigt beiseitegeschoben werden."

Politischer Handlungsauftrag

Das Urteil ist für Stingl und Nagl aber auch eine Anfrage an die Politik: "Der Trend, nun bereits seit vielen Jahren, gesellschaftspolitische Fragestellungen an Höchstgerichte zu delegieren, ist ebenso zu hinterfragen, wie es auch gilt, einen zukunftsfähigen Wertediskurs darüber zu führen, wie wir künftig zusammenleben wollen. Letztlich wird es nicht darauf ankommen, ob wir davon ausgehen, dass auch der freiheitlich-säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, oder ob wir dieses Verständnis in einem ständig fortschreitenden Prozess von 'Checks and Balances' entwickeln. Die Verabsolutierung individueller Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte kann kein Konzept für die Zukunft einer solidarischen Gesellschaft sein!"

Im konkreten Fall ersuchen die Menschenrechtsstadt-Bürgermeister den Gesetzgeber, eine "verfassungskonforme neue Regelung zu finden, die keinen assistierten Suizid ermöglicht. Zugleich gilt es, die Einrichtungen der Hospizbewegung, der Palliativmedizin und der Suizidprävention weiter auszubauen und für alle Menschen niederschwellig zur Verfügung zu stellen." Unverändert gilt für sie hier das Wort von Kardinal Franz König: "Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen sterben und nicht durch die Hand eines anderen Menschen."

Fazit der gemeinsamen Erklärung: "Der Ausklang des Lebens verlangt Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Verständnis für das Sein in Liebe zum Menschen! Graz wird als Menschenrechtsstadt 2021 zu einem tiefgreifenden Diskurs mit Expertinnen und Experten zu diesem Thema einladen."

Quelle: Stadt Graz

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