vonRedaktion Salzburg
AUGUST 16, 2023
Gefährdungsabklärungen nahmen in den vergangenen fünf Jahren stark zu / Leiter Roland Ellmer im Interview
(LK) Die Fälle, in denen die Kinder- und Jugendhilfe des Landes eingreifen muss, nehmen zu. Waren es im Jahr 2018 noch 2.250 Gefährdungsabklärungen, waren es 2022 schon 3.275, also um rund 1.000 mehr. Das zeigt der aktuelle Bericht. Die wichtigste Botschaft von Roland Ellmer, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe: „Jeder bekommt Hilfe, rasch, individuell abgestimmt und von Profis. Bitte nicht zögern und so früh wie möglich melden, wenn es Probleme gibt“, so Ellmer.
Der Appell von Roland Ellmer, früh genug Hilfe zu holen, wenn es Probleme in der Familie gibt, ist eindringlich: „Immer wieder sehen wir leider tragische Fälle wie vor kurzem bei dem erst sieben Wochen alten Baby, das tot geschüttelt wurde. Wir setzen alles daran, dass es nicht soweit kommt, im ganzen Bundesland und mit einem Team an Profis, die den Familien und natürlich vor allem den Kindern- und Jugendlichen zur Seite stehen. Voraussetzung ist aber, dass wir informiert werden“, so Ellmer, der das Referat der Kinder- und Jugendhilfe leitet. Das Landes-Medienzentrum (LMZ) hat mit ihm über die aktuelle Situation gesprochen.
LMZ: Herr Ellmer, die Gefährdungsabklärungen sind stark gestiegen. Wer meldet denn, wenn ein Kind oder Jugendlicher in Gefahr ist?
Roland Ellmer: Unterschiedlich. Es gibt eine Reihe von Stellen, die gesetzlich verpflichtet sind, den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung zu melden. Dazu gehören zum Beispiel Schulen, Kindergärten, die Polizei, Ärzte und so weiter. Aber auch Menschen im sozialen Umfeld, die etwas bemerken, Verwandte oder Nachbarn zum Beispiel sollten Bescheid sagen. Jugendliche melden sich zum Teil auch selber und es kommt auch vor, dass die Eltern aktiv Hilfe suchen, wenn sie es nicht mehr schaffen. Die Fallzahlen steigen in allen diesen Kategorien.
LMZ: Wo kann man sich hinwenden?
Roland Ellmer: An die jeweilige Kinder- und Jugendhilfe in den Bezirkshauptmannschaften oder in der Stadt Salzburg. Einen Überblick über die Kontakte gibt es unter www.salzburg.gv.at/gewaltfrei.
LMZ: Wenn der erste Schritt gemacht ist, nach der Erkenntnis, dass Hilfe benötigt wird, wie geht es dann weiter?
Roland Ellmer: Eine Gefährdungsmeldung lässt die Kolleginnen und Kollegen sofort handeln, es gibt da klare Vorgaben. Es gilt das Vier-Augen-Prinzip, es gibt eine Checkliste, wie vorzugehen ist. Dann gibt es die fachliche Einschätzung, ob eine Gefährdung des Kindeswohles vorliegt. Liegt eine vor, dann installiert die Kinder- und Jugendhilfe so schnell wie möglich eine so genannte Erziehungshilfe. Die kann in der Familie stattfinden, aber auch bei Pflegeltern oder in einer sozialpädagogischen Einrichtung.
LMZ: Können Sie das näher beschreiben?
Roland Ellmer: Bei der Familie zu Hause gibt es die Unterstützung der Erziehung. Dabei kommt regelmäßig jemand zur Familie, der mit den Eltern und Kindern arbeitet – von der psychologischen Betreuung bis hin zur Sozialarbeit für die jeweiligen Bedürfnisse. Man kann sich das so zwei Mal pro Woche vorstellen in einem Umfang von sechs bis acht Stunden. Wenn das nicht ausreicht, dann gibt es die „volle Erziehung“. Das kann bei Pflegeeltern oder auch in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften sein. Für ganz dringende Fälle gibt es Krisenstellen, wo die Kinder und Jugendlichen von einem Tag auf den anderen vorübergehend sicher untergebracht werden können.
LMZ: Wie viele solcher Stellen gibt es in Salzburg?
Roland Ellmer: Rund 400 in Wohneinrichtungen in Salzburg. Gibt es ganz spezielle Bedürfnisse, arbeiten wir auch mit Einrichtungen in Tirol, Oberösterreich oder auch Bayern zusammen.
LMZ: Ist die Betreuung der Kinder abseits der Familie endgültig? Kommen sie auch wieder zurück?
Roland Ellmer: Von den Krisenstellen und auch anderen Einrichtungen kommt es regelmäßig zu so genannten Rückführungen, wenn sich die Situation in der Familie bessert und das Kindeswohl dort nicht mehr gefährdet ist. Die Unterbringung bei Pflegeeltern bleibt hingegen sehr oft bis zur Volljährigkeit. Das wissen meist die Eltern, das wissen auch die Gerichte. Darum wird so eine Lösung oft sehr zögerlich umgesetzt beziehungsweise ist es mitunter schwierig, die Zustimmung des Gerichtes oder der Eltern zu bekommen. Elternrechte und Kinderrechte – da besteht oft eine große Spannung, jeder Fall muss gerichtlich genau geprüft werden.
LMZ: Ab wann dürfen Kinder und Jugendliche selber entscheiden, wo sie bleiben möchten?
Roland Ellmer: Ab 14 Jahren kann man Jugendliche de facto nicht gegen ihren Willen unterbringen, auch wenn das dem Kindeswohl entsprechen würde. In die Entscheidung miteingebunden werden aber auch jüngere Kinder, wobei die Rechtsprechung dem Willen des Kindes so ab dem 10. bis 12. Lebensjahr große Bedeutung zumisst.
LMZ: Wie groß ist das Team – beim Land Salzburg und in den Bezirkshauptmannschaften – in der Kinder- und Jugendhilfe?
Roland Ellmer: Rund 100 Personen beim Land Salzburg und in den Bezirkshauptmannschaften sind mir der Organisation und Qualitätssicherung des Systems sowie der Fallführung befasst. Die tägliche Betreuung im Rahmen einer Erziehungshilfe obliegt privaten Organisationen wie zum Beispiel SOS-Kinderdorf, KOKO, Pro Juventute und Rettet das Kind, die vom Land beauftragt werden. In Summe sind es also etwas mehr als 400 Mitarbeiter*innen.
LMZ: Diese Schicksale und Geschichten mitzubekommen ist sicher nicht immer leicht. Wie gehen die Mitarbeiter*innen damit um?
Roland Ellmer: Es ist eine fordernde Aufgabe, das steht außer Streit, auch der Arbeitsdruck steigt aufgrund der mehr werdenden Fallzahlen. Supervision, die Arbeit im Team und der regelmäßige Austausch hilft hier sehr. Doch ich muss auch sagen, dass es sehr oft Erfolgserlebnisse gibt, was unglaublich motiviert und auch sinnstiftend ist. Sicher, man findet eine schlimme Situation vor, aber mit mitunter geringen Mitteln, die gezielt eingesetzt werden, stellt sich der Erfolg ein, wir können das Leben von Kindern und Jugendlichen verbessern. Das ist sehr befriedigend und erfüllend. Viele angehende Sozialarbeiter*innen wollen in die Kinder- und Jugendhilfe, der Flaschenhals ist hier eher die Ausbildung, da die Studienplätze leider sehr begrenzt sind.
LMZ: In die Zukunft geschaut: Was wäre denn der Wunsch der Kinder- und Jugendhilfe?
Roland Ellmer: Dass wir eines Tages komplett überflüssig sind, aber das ist leider nur ein Traum. Prävention ist der zentrale Schlüssel zum Erfolg, zum Beispiel mit den frühen Hilfen für junge Eltern von der Geburt des Kindes an. Da greift man ein, bevor es ein Problem gibt oder es überhaupt entstehen kann. Es gibt die Elternberatung des Landes schon sehr lange, aber auch der Bund und die EU setzen auf Prävention und finanzieren zum Beispiel Familienbegleiter*innen, die es in Salzburg im Rahmen des Projektes „birdi“ in allen Bezirken gibt. Das ist sehr niederschwellig und effektiv.
LMZ: August 2024. Was würden Sie gerne in ihren Bericht über die Kinder- und Jugendhilfe schreiben?
Roland Ellmer: Dass die Zahlen bei den Gefährdungsmeldungen zumindest stabil geblieben sind, dass die Kinder- und Jugendhilfe in den Bezirken über ausreichend Personal verfügt und dass wir landesweit die ambulante Unterstützung sowie die Zahl der Krisenplätze ausbauen konnten.
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Quelle: Land Salzburg