vonOTS
OKTOBER 30, 2021
Breite Allianz von Institutionen zeigt verheerende Effekte des Personalmangels auf und fordert Sofortmaßnahmen.
Wien (OTS) - Gesperrte Betten in Pflegeheimen, Wartelisten in der Hauskrankenpflege, geschlossene Stationen in Spitälern – während der dramatische Personalmangel im Pflegebereich bereits reale Versorgungsprobleme zeitigt, lässt die Pflegereform nach wie vor auf sich warten. Eine breite Allianz von Institutionen fordert nun mehr Tempo und politische Entscheidungen ein.
Schon vor dem Sommer hat sich ein breiter Zusammenschluss von Institutionen in einem Offenen Brief an die Bundesminister Mückstein, Kocher, Fassmann und Blümel, an den Bundeskanzler sowie den Vizekanzler und weitere zuständige PolitikerInnen in Bund und Ländern gewandt. VertreterInnen maßgeblicher Pflegeorganisationen Österreichs, der einschlägigen Arbeitgeber- und ArbeitnehmerInnenverbände sowie der Berufs- und Fachverbände forderten in diesem Brief einen qualifizierten Prozess und die zügige Umsetzung der längst überfälligen Pflegereform ein.
„Der Personalmangel in der Pflege, dessen Behebung ein zentrales Thema der Reform sein muss, hat sich inzwischen weiter zugespitzt und hat dramatische Auswirkungen auf die Versorgungslage – sei es in Pflegeheimen, in der Hauskrankenpflege oder im Bereich der Spitäler“, sagt Markus Mattersberger, Präsident des Lebenswelt Heim Bundesverbandes. Die Allianz meldet sich daher nun wieder zu Wort. „Wir hatten in den letzten Monaten und Wochen einige gute Gespräche mit der Politik. Was nach wie vor fehlt, ist ein politischer Prozess, der die notwendigen Entscheidungen herbeiführt, konkrete Maßnahmen in einem stimmigen Gesamtplan fachlich und organisatorisch aufbereitet und in die Umsetzung bringt. Auch für die budgetäre Bedeckung der Reform muss gesorgt werden. Wir haben angesichts der verheerenden Lage keine Zeit mehr zu verlieren!“ warnt Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich.
Auswirkungen und Gründe der Versorgungskrise
„Wir haben mittlerweile in fast allen Bundesländern Anfragen von pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen, die wir auf Grund des Personalmangels vertrösten und auf Wartelisten setzen müssen. Dies gilt für den Bereich der Pflegeheime genauso wie für die ambulante Versorgung und da insbesondere für die Hauskrankenpflege“, sagt Michael Opriesnig, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes. Man komme daher nicht mehr umhin, von einer veritablen Versorgungskrise zu sprechen. Josef Zellhofer, Bundesvorsitzender Österreichischer Gewerkschaftsbund ARGE Fachgruppenvereinigung für Gesundheits- und Sozialberufe, weist auf die prekäre Gesamtlage hin: „Der Personalmangel betrifft alle Bereiche, in denen Pflegeleistungen erbracht werden. Obwohl wir uns in unserer Allianz schwerpunktmäßig mit der mobilen und stationären Langzeitpflege beschäftigen, beeinflusst der Mangel in den Gesundheitseinrichtungen die Altenpflege in doppelter Weise. Erstens kommt es zu einem höheren Entlassungsdruck aus den Krankenhäusern, zweitens bewegen sich Langzeitpflege- und Krankenhausbereich auf dem gleichen Personalmarkt.“
„Wir machen seit Jahren auf die demographische Sondersituation aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge ab 1939 aufmerksam“, erläutert Walter Marschitz, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Sozialwirtschaft Österreich, und fährt fort: „Diese Generationen werden nun pflegebedürftig und erzeugen massiven Bedarf – und die Situation wird nicht zuletzt vor dem Hintergrund der alternden Babyboomer der 60er-Jahre 30 Jahre anhalten!“ Zudem stünde der Sektor vor einer massiven Pensionierungswelle. Elisabeth Potzmann, Präsidentin Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes, weist auf einen weiteren problematischen Zusammenhang hin: „Die starke Belastung während der Coronakrise hat Beschäftigte verstärkt bewogen, ihr Arbeitszeitausmaß zu reduzieren, einen früheren Pensionsantritt anzustreben oder überhaupt aus dem Beruf auszusteigen.“ Gleichzeitig hätten die Ausbildungskapazitäten in den letzten Jahren nicht mit dem Bedarf schrittgehalten.
Maßnahmen, die sofort ergriffen werden sollten
Sandra Frauenberger, Geschäftsführerin Dachverbandes Wiener Sozialeinrichtungen, fordert eine Rückholinitiative für BerufsaussteigerInnen: „Das Gesundheitsberuferegister, in dem seit einigen Jahren alle ausgebildeten Pflegekräfte erfasst werden, zeigt, dass mehrere tausend Personen zwar entsprechend ausgebildet, jedoch nicht in der Pflege tätig sind. Die Politik möge Mittel bereitstellen, um diese Personen in einer Sonderaktion für einen Wiedereinstieg zu gewinnen.“
„Wir müssen den Weg für Personen, die einen Umstieg in den Pflegeberuf erwägen, erleichtern und unterstützen“, meint Anja Eberharter, Sozialexpertin Alter und Pflege der Diakonie Österreich. Dazu gehöre eine gezielte Ausweitung des bereits bestehenden Fachkräftestipendiums und die Schaffung vergleichbarer Möglichkeiten für Interessierte, die nicht aus der Arbeitslosigkeit, sondern aus anderen Berufen kommen und neue Perspektiven in der Pflege und Betreuung suchen.
Auf die Notwendigkeit, die Höher- und Weiterqualifizierung in den Pflege- und Betreuungsberufen zu unterstützen, weist Karin Abram, Leitung Soziales und Anwaltschaft bei der Caritas Österreich, hin: „Die Durchlässigkeit muss fachlich und finanziell gegeben und lebbar sein. Entwicklungsmöglichkeiten binden Menschen im Beruf und schaffen Perspektiven. Dazu braucht es aber auch die Übernahme der Ausbildungskosten und eine Sicherung des Lebensunterhaltes während der Zeit der Qualifizierung.“
Reinhard Waldhör, Vorsitzender der Gesundheitsgewerkschaft in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, drängt darauf, die Pilotversuche im Bereich der Berufsbildenden Höheren Schulen zügig in das Regelschulwesen zu übernehmen: „Wir müssen jungen Menschen anschlussfähige Ausbildungswege nach der Pflichtschule bieten. Und das möglichst unkompliziert und flächendeckend. Auch eine Aufstockung der Ausbildungsplätze in den Fachhochschulen und verstärkte regionale Kooperationen der Fachhochschulen mit den Schulen für Gesundheits-und Krankenpflege wären wichtig“, so Waldhör.
Teresa Millner-Kurzbauer, Fachbereichsleitung Pflege & Betreuung bei der Volkshilfe Österreich, fordert die Übernahme der Ausbildungskosten und einen finanziellen Beitrag zum Lebensunterhalt in allen Ausbildungssettings. „Die Ausbildung darf nicht am Finanziellen scheitern, wenn Menschen sich für diese wichtigen Berufe interessieren. Die Unterstützung des Lebensunterhalts kann auch als Abgeltung der umfangreichen Praktika verstanden werden.“ Die Praktika seien insgesamt aufzuwerten und organisatorisch wie finanziell besser abzufedern.
Österreich muss dringend in die Pflege investieren!
Was die Finanzierung der Pflege in Österreich betrifft, ortet Silvia Rosoli, Abteilungsleiterin Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik in der Arbeiterkammer Wien, jedenfalls „Luft nach oben“: „7 Milliarden Euro werden in Österreich pro Jahr für Pflege und Betreuung ausgegeben, 5,6 Milliarden davon von der öffentlichen Hand. Diese Summen zeigen, dass sich der erforderliche Investitionsbedarf für die notwendigen Maßnahmen auch in entsprechenden Größenordnungen bewegen muss. Diese Herausforderung ist machbar. Im OECD-Vergleich liegt Österreich mit 1,5% des BIP für die Langzeitpflege lediglich im Mittelfeld. Die Niederlande wenden rund 4% des BIP auf, Deutschland immerhin über 2%.“ Die Mittel seien in der Langzeitpflege außerdem gut eingesetzt, weil es notwendige Hilfe für pflegebedürftige Menschen gewährleiste, sichere und sinnvolle Arbeitsplätze schaffe, regionale Wirtschaftskreisläufe stärke und jeder investierte Euro über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu 70% wieder in öffentliche Budgets zurückfließe.
Pflegegipfel und adäquater Prozess gefordert
Die Allianz erwarte sich einen strukturierten, zielgerichteten Prozess unter ernsthafter Einbindung der relevanten in diesem Thema verantwortlich tätigen Stakeholder. Vorgeschlagen wird ein Pflegegipfel bzw. eine Zielsteuerung mit den verantwortlichen PolitikerInnen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene, mit ExpertInnen und SystempartnerInnen. Dabei sollen Schwerpunktsetzungen sowie Priorisierungen vorgenommen werden, Arbeitsaufträge und Arbeitspakete vereinbart und ein Stufenplan für die Umsetzung entwickelt werden.
„Es ist höchst an der Zeit, umgehend und ernsthaft die Weichen für eine gute Zukunft der Pflege in Österreich zu stellen! Wir sind dabei! Und wir werden uns nicht länger hinhalten lassen“, so die abschließenden Worte der VertreterInnen der Partnerorganisationen.
Quelle: OTS