Kärnten: Armut sichtbar machen - Kärntner Armutsstudie 2024
Foto: Büro LHStvin Schaunig
LHStv.in Schaunig, LRin Prettner, LRin Schaar: Bekämpfung der Armut hat oberste Priorität – Studie gibt tiefen Einblick in die Lebenssituation armutsbetroffener Menschen in Kärnten – Land arbeitet konkrete Schritte aus – Armutsnetzwerk mit Forderungskatalog an Bund
KLAGENFURT. Die Krisen der vergangenen Jahre haben die Zahl der armutsgefährdeten und -betroffenen Menschen in Österreich erhöht. Das sagt die Statistik, aber wie genau schaut es in Kärnten aus? Und wie geht es den betroffenen Menschen, vor welchen Hürden stehen sie, welche Hilfsangebote nehmen sie in Anspruch, wo mangelt es an Unterstützung?
Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, hat das Land Kärnten gemeinsam mit dem Kärntner Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung die Kärntner Armutsstudie 2024 in Auftrag gegeben, die heute allen Netzwerkpartnerinnen und -partnern sowie Vertreterinnen und Vertretern von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft im Rahmen der 15. Sozialen Dialog Konferenz und anschließend bei einer Pressekonferenz in Klagenfurt präsentiert wurde. Die Studie findet man zum Download unter armutsnetzwerk.at
„Es ist unerträglich, dass in einem wohlhabenden Land wie Österreich Menschen um ihre Existenz ringen. Die Bekämpfung von Armut hat oberste Priorität. Nachhaltig bekämpfen kann man aber nur einen Gegner, den man genau kennt. Daher haben wir diese Studie in Auftrag gegeben, die uns nun einen tiefen Einblick in die Lebenssituation armutsbetroffener Kärntnerinnen und Kärntner sowie in den Arbeitsalltag der Mitarbeitenden in Sozialämtern und -organisationen gibt“, erklärten LHStv.in Gaby Schaunig und die Landesrätinnen Beate Prettner und Sara Schaar in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Armutsnetzwerk-Obmann Christian Eile und Studienautorin Evelyn Dawid.
Grundsätzlich attestiert die Studie dem Land Kärnten eine gute Soziallandschaft. Verbesserungspotenzial sieht sie bei der Vernetzung der Organisationen sowie dem Informationsfluss hin zu den Betroffenen.
Häufige Ursachen bzw. Auslöser für Armut sind Krankheit, prekäre Arbeit oder Bildungsabbrüche, aber auch Gewalterfahrungen. Und: Armut ist vielfach vererbt. Wer Armut als Kind erlebt, befreit sich daraus oft nur schwer. „Armut ist ein strukturelles und kein individuelles Versagen. Es leitet sich aus der Studie eindeutig ab, dass wir mit einer Kindergrundsicherung den Teufelskreis Armut in vielen Fällen durchbrechen könnten. Die nächste Bundesregierung muss hier aktiv werden, das Land Kärnten steht als Partner bereit“, betonte Sozialreferentin Schaunig. „Soweit wir seitens des Landes eigenständig tätig werden können, werden wir das tun und den Hebel beim Thema Wohnen ansetzen. In den kommenden zwei Jahren werden wir Mittel für die Errichtung und Sanierung von 1900 gemeinnützigen Wohnungen in Kärnten freigeben. Vor allem das Angebot an Übergangswohnungen werden wir deutlich ausbauen“, kündigte sie an und erneuerte ihre Forderung an den Bund, „endlich eine wirksame Preisbremse bei privaten Mieten einzuziehen“.
Landesrätin Prettner wies auf die Tatsache hin, dass „leider zu viele armutsbetroffene Menschen aus falscher Scham“ Unterstützungen, die das Land und zahlreiche Organisationen bieten, nicht annehmen würden. „Oder aber sie wissen über das Hilfsangebot gar nicht Bescheid, weil sie sich nicht trauen, Informationen einzuholen und Anträge zu stellen.“ Deshalb habe sie den Soziallotsen wohin.or.at ins Lebens gerufen. Interessant sei, „dass die Studie in diesem Zusammenhang auch unsere Pflegenahversorgung als positives Beispiel nennt: Sie ist in den Gemeinden verankert, also direkt bei den Menschen vor Ort, und könnte zu einem Anknüpfungspunkt für Sozialarbeit weiterentwickelt werden.“ Jedenfalls sei die Stigmatisierung von Armut zu bekämpfen, ist Prettner überzeugt: „Das kann nur in einem gemeinsamen Kraftakt passieren. In den allermeisten Fällen ist es ja kein individuelles Versagen, wenn man plötzlich vor dem Abgrund Armut steht. Es kann jeden von uns treffen: Sei es, weil man die Arbeit verliert und mit dem zu geringen Arbeitslosengeld nicht über die Runden kommt. Sei es, weil man erkrankt, ob physisch oder psychisch, und mit dem zu niedrigen Kranken- oder Reha-Geld den Boden unter den Füßen verliert. Wir wissen, dass lange Krankheit ein armutsgefährdender Faktor ist. Hier ist die Bundesregierung ganz massiv gefordert, tätig zu werden und mitzuhelfen, die Armut in unserem Land zu verringern“, appellierte Prettner.
Landesrätin Schaar betonte, dass „die Studie bestätigt, dass Kärnten ein starkes Sozialsystem hat. Um dieses zu optimieren, müssen wir Einrichtungen stärker vernetzen, vor allem in ländlichen Gebieten, und die Leistungen noch näher an die Menschen bringen. Sozialraumorientierung ist ein interessanter Ansatz, den wir in Kärnten aktuell in mehreren Bereichen, unter anderem in der Kinder- und Jugendhilfe, prüfen. Unser Ziel ist es, die Unterstützung auf allen Ebenen und für alle Generationen zu intensivieren, die Prävention in Familien zu verstärken und die Sozialberufe qualitativ aufzuwerten.“
Armutsnetzwerk-Obmann Christian Eile: „Die Ergebnisse der Kärntner Armutsstudie zeigen deutlich, wie wichtig frühe und möglichst ganzheitliche und aufeinander abgestimmte Hilfsangebote für Armutsbetroffene sind. Nachdem die Ursachen von Armut und Ausgrenzung bis in die Kindheit und Jugend zurückreichen, braucht es umfassende Unterstützung im Sinne präventiver Angebote. Der Auftrag in der Armutsbekämpfung ist deutlich: „leave no one behind“ bedeutet, allen Menschen in der Gesellschaft die gleichen Rechte und Möglichkeiten mit dem Ziel bestmöglicher Entfaltung einzuräumen.“
Studienautorin Evelyn Dawid ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin mit Schwerpunkt Armut und soziale Ausgrenzung. Sie wünscht sich, dass alle, die in Kärnten schon bisher professionell gegen Armut gekämpft haben, die Studie am Bildschirm oder am Schreibtisch liegen haben, um mit den Ergebnissen weiterzuarbeiten. Und sie verspricht: „Das ist wirklich spannend zu lesen, nicht nur für Fachleute, sondern einfach für jeden und jede. Da sind Lebensgeschichten von Menschen drinnen, denen in ihren ersten 20 Lebensjahren so viel zugestoßen ist, wie anderen nicht in einem ganzen langen Leben.“
Zu Wort kommen in der Studie beispielsweise Udo und Stephanie. Am Anfang stehen bei Udo Jobverlust und längere Arbeitslosigkeit, es folgen AMS-Maßnahmen und ein nur kurzfristiger Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. Mit dem neuerlichen Jobverlust ist der Teufelskreis in Gang gesetzt und bleibt oft für Jahre oder gar Jahrzehnte in Bewegung. Mit der Zeit fallen die Kurzzeitjobs weg. Verzagen und Selbstzweifel werden übermächtig, wie der 47-jährige beschreibt: „Man verliert irgendwann sein Selbstwertgefühl, man verliert sein Vertrauen in die Wirtschaft oder in die Regierung, weil irgendwo läuft ja was falsch, weil es war ja nie so, dass ich gesagt habe: Ich will jetzt arbeitslos sein und Arbeitslosengeld kassieren.“ Und mit der Zeit stellt sich das Gefühl ein, auf der Stelle zu treten, sagt die 45-jährige Stephanie: „Dann siehst du immer, was die anderen machen, und ich selber denk mir: Ich bin da irgendwie fast stehengeblieben.“
Gastgeber der Sozialen Dialog Konferenz war die Arbeiterkammer Kärnten. AK-Präsident Günther Goach betont: „Armut darf kein privates Schicksal sein, sondern benötigt unser aller Kraftanstrengung, um den Betroffenen langfristig zu helfen und Perspektiven zu schaffen. Die Arbeiterkammer Kärnten fordert daher die Regulierung der Mietpreise im frei finanzierten Wohnbau, den Ausbau des gemeinnützigen Wohnungsbaus auch außerhalb des Zentralraums, die Erweiterung der Kinderbetreuungs- und Bildungsangebote, inklusive Betriebskindergärten, um mehr Frauen die Vollbeschäftigung und damit die finanzielle Unabhängigkeit zu ermöglichen. Ebenso muss weiterhin verstärkt in die Ausbildungseinrichtungen investiert werden, um optimale Berufsaussichten zu schaffen und gleichzeitig prekäre Arbeitsverhältnisse zu verhindern.“
Ernst Sandriesser, Direktor Caritas Kärnten: „Frühe Armut, Vernachlässigung sowie eine verlustreiche und brüchige Kindheit und Jugend: die Ergebnisse der Kärntner Armutsstudie zeigen deutlich, wie entscheidend eine stabile und förderliche Kindheit und Jugend für den weiteren Lebensverlauf ist. Die Caritas steht dafür ein, dass allen Kindern und Jugendlichen ein Wachstum ermöglicht werden muss, das zur vollen Ausschöpfung ihrer Potenziale führt. Stabile Lebenslagen, umfangreiche Ressourcen, individuelle Förderungen im Rahmen angepasster Bildungsangebote: wir benötigen integrierende und aufeinander abgestimmte Unterstützungsangebote für rund 20.000 Kinder und Jugendliche, die gerade in Kärnten in Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung aufwachsen. Der Vererbung von Armut muss unter dem Motto „Wir lassen niemanden zurück“ ein Ende gesetzt werden.“
Marcel Leuschner - Leiter Asyl, Migration & Integration, Diakonie de La Tour: „Armut fragt woher einer kommt. So sind nicht-österreichische Menschen laut EU-SILC (2023) mit 34 Prozent weit überdurchschnittlich armutsgefährdet und laut OECD (2023) ist die Gefahr für Zugewanderte, arm zu sein, viermal höher als die der einheimischen Bevölkerung. Die resultierende Ungleichheit spaltet unsere Gesellschaft. (Un-)freiwillig migrierte Menschen gehören somit auch in Kärnten bei rund der Hälfte der befragten Non-Profit-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Rahmen der Kärntner Armutsstudie (2024) (sehr) häufig zu den Klientinnen und Klienten. Natürlich kann Armut und Ausgrenzung prinzipiell jede und jeden treffen, die Diakonie tritt daher für ein gutes Leben für alle ein!“
Georg Spiel - Geschäftsführung von pro mente kärnten GmbH und ärztliche sowie psychotherapeutische Gesamtleitung und Michaela Obrist – Leiterin Cluster Sozialpsychiatrie, pro mente kärnten GmbH: „Psychisch krank und arm – dieser Kreislauf ist geprägt von Exklusion in allen Lebensbereichen der betroffenen Menschen. Beide Komponenten bedingen einander. Um die soziale Teilhabe, sprich Inklusion in der Gesellschaft von psychisch erkrankten und armutsgefährdeten Menschen zu fördern, muss einem ganzheitlichen Ansatz gefolgt werden. Die wirtschaftliche Unterstützung, wie auch Maßnahmen zur Reduzierung von Stigmatisierung und eine individualisierte/ zielgenaue Betreuung sind Teile davon.
Diese Beratung und Betreuung im psychosozialen Kontext muss gemeindenah, mobil und niederschwellig angeboten werden. Zentral für diesen Betreuungsansatz ist die Netzwerkarbeit. Sie ist essentiell für die Bereitstellung der Unterstützung durch die enge Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und dadurch kann die Versorgung besser auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten werden. Die Betreuung soll eine Kontinuität in der Versorgung sicherstellen, damit Menschen konsistent und kohärent über verschiedene Ebenen und über die Zeit hinweg die Angebote nutzen können. Dies bedeutet, dass sie nicht nur in akuten Phasen, sondern auch in der Langzeitversorgung kontinuierlich begleitet werden und vor allem ihren individuellen Bedürfnissen zugeschnittene Angebote in Anspruch nehmen können.“
Jürgen Pfeiler - Geschäftsführer der Volkshilfe Kärnten: „Armut und Wohnen sind eng miteinander verbunden, da bezahlbarer Wohnraum eine Grundvoraussetzung für ein menschenwürdiges Leben darstellt. Steigende Mieten und Wohnkosten zwingen viele Haushalte in finanzielle Notlagen und erhöhen das Risiko von Wohnungslosigkeit. Delogierungen haben verheerende soziale und wirtschaftliche Folgen und verschärfen die Armutsspirale. Präventive Maßnahmen wie Mietzuschüsse, soziale Wohnbauprogramme und rechtzeitige Beratung sind unerlässlich, um Delogierungen zu verhindern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.“ Investitionen in präventive Strategien schützen nicht nur betroffene Familien, sondern entlasten langfristig auch das Sozialsystem.
Das Kärntner Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist eine Wissens- und Sozialplattform für Sozialorganisationen, Vereine und sozialpolitisch interessierte Personen in Kärnten. Es bündelt die weite Erfahrung und Expertise seiner Mitgliedsorganisationen und steht in einem kontinuierlichen Austausch mit den politischen Entscheidungsträgerinnen und –trägern und der öffentlichen Verwaltung in Kärnten. Ziel ist es, Strukturen, Praktiken und Gesetze, die Armutsgefährdung oder soziale Ungleichheit fördern bzw. festigen zu identifizieren sowie konstruktive Lösungsvorschläge und Sensibilisierungsmaßnahmen zu erarbeitet, etwa bei Vernetzungstreffen, Sozialen Dialog Konferenzen und Aktionen. Mitglieder (in alphabetischer Reihenfolge) sind: 4everyoung, AutArK, AVS- Arbeitsvereinigung der Sozialhilfe Kärntens, Caritas Kärnten, Diakonie de La Tour, Die Kärntner Volkshochschulen, EqualiZ, Fachhochschule (FH) Kärnten, Frauenhaus Villach, Hilfswerk Kärnten, Kammer für Arbeiter und Angestellte Kärnten, Kärntner in Not, Katholische Aktion der Diözese Gurk, Katholische ArbeitnehmerInnen-Bewegung Kärnten, Neue Arbeit Gemeinnützige Beschäftigungsmodell GmbH, Neustart Kärnten, Österreichisches Rotes Kreuz LV Kärnten, PIVA - Projektgruppe Integration von Ausländerinnen und Ausländern, pro mente kärnten, SozialMarkt Kärnten, Volkshilfe Kärnten. (Schluss)
Quelle: Land Kärnten