Studie stellt Wiener Extremismus-Prävention gute Noten aus
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Wiener „Netzwerk Demokratiekultur und Prävention“ wurde untersucht; Prävention wirkt in meisten Fällen, aber bereits in Terror-Netz abgerutschte ‚Gefährder‘ sind schwer zu erreichen
Vor einem Jahr, am 2. November 2020, kam der islamistische Terror nach Wien. Hätte der Anschlag verhindert werden können? Welche Maßnahmen setzt die Stadt Wien gegen das Abrutschen von Kindern und Jugendlichen in radikales Gedankengut, Extremismus, Gewalt und schließlich Terror? Diesen Fragen geht eine Studie von Wissenschafter Nicolas Stockhammer nach, die Wiens Bürgermeister Michael Ludwig, heute, Freitag im Rathaus vorgestellt hat. Das Fazit: Die Stadt ist mit dem „Wiener Netzwerk Demokratiekultur und Prävention“ gut aufgestellt – Lücken gibt es bei den Deradikalisierungs-Angeboten des Bundes, zum Beispiel für Personen, die sich in Haft radikalisiert haben.
Bürgermeister Ludwig war in der Terror-Nacht am 2. November 2020 selbst im Krisenstab der Wiener Polizei am Schottenring. Die Eindrücke von damals prägten den Stadtchef. „Die Zusammenarbeit von Polizei, Rettung und Stadt war gut abgestimmt. In der Stadt gab es Zusammenhalt und Zivilcourage: Restaurants und Theater haben ihre Tore geöffnet, um flüchtende Menschen aufzunehmen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wiener Linien sind weitergefahren und haben Menschen mit dem Bus oder der U-Bahn aus der Gefahrenzone gebracht“, erinnerte er sich an den lauen Herbstabend kurz vor dem Lockdown vor einem Jahr.
„Auch schon vor der Terrornacht hat Wien die Präventionsarbeit ernst genommen“, sagte Ludwig. „Die Stadt hat seit 2014 mit dem ‚Wiener Netzwerk Demokratiekultur und Prävention‘ eine kommunale Strategie zur Extremismusbekämpfung eingerichtet. Im Netzwerk arbeiten die Kinder- und Jugendanwaltschaft, Bildungseinrichtungen, Vereine bis hin zu Polizei und Arbeitsmarkt-Service zusammen“, erklärte Ludwig. Ziel des Netzwerks sei es, Kinder und Jugendliche vor Gruppen zu schützen, die darauf abzielen, junge Menschen zu radikalisieren.
Dass die Strategie der Stadt aufgeht, zeigt die Studie von Terror- und Radikalisierungs-Forscher Nicolaus Stockhammer von der Uni Wien. „Extremismusprävention ist die Grundlage für die Vereitelung von Terrorismus und politisch motivierter Gewalt“, so Stockhammer. Er sieht die Extremismusvorbeugung als kommunale Aufgabe: „Städte wie Wien haben eine grundlegende Verantwortung extremistischen Ideologien und Netzwerken, gleich welcher Ideologischen Grundierung, ein Netzwerk der Prävention entgegenzusetzen.“ Das gelinge Wien mit dem „Netzwerk Demokratiekultur und Prävention“ (WNED). Das Präventionskonzept der Stadt reiche „vom Kindergarten bis zum Verfassungsschutz“. Das WNED setzt auf Betreuung, Beratung und Bildung – mit Angeboten für von Radikalisierung bedrohten Jugendlichen sowie Fortbildungsangeboten für Lehrerinnen und Lehrer oder Polizistinnen und Polizisten, die mit den Jugendlichen in Kontakt kommen. So soll eine drohende oder bereits laufende Radikalisierung früh erkannt und gekontert werden.
Das erfolgreichste Mittel gegen Radikalisierung sei, den Versprechungen oder Opfer-Mythen von Terrorgruppen wie dem IS oder Rechtsextremen Gruppierungen mit entsprechenden „Gegen-Narrativen“ zu begegnen und islamistische oder rechtsextreme Ideologien als falsch und gefährlich zu entlarven, erklärte Stockhammer. Er hob Projekte des WNED wie „Jamal al-Khatib (Turn)“ hervor, bei der ein fiktiver IS-Rückkehrer über das Leben mit dem IS erzählt und Jugendlichen „reinen Wein zum Leben mit dem IS einschenkt.“
In seiner Studie empfiehlt Stockhammer der Stadt Projekte und Programme wie „Jamal al-Khatib (Turn)“ auszubauen. Auch könne sich Wien Anregungen von „Best-Practice“-Beispielen aus Städten wie Aarhus, Hamburg oder Turin holen. Aarhus war die Stadt, aus der die meisten dänischen IS-Anhänger zum „Djihad“ nach Syrien gezogen waren, so Stockhammer. Die Stadt hat daraufhin eine niederschwellige Anlauf- und Beratungsstelle eingerichtet, bei der sich Betroffene oder Bekannte bei einem Verdacht von Radikalisierung melden können. In Hamburg würden gefährdeten Jugendlichen, die bereits in die Radikalisierung abgerutscht sind, „Schlüsselpersonen“ zugeordnet – also Vertrauenspersonen – die sie beim Ausstieg aus extremistischen Milieus begleiten und unterstützen. In Turin erzählen Überlebende von Terror oder Angehörige von Terror-Opfern ihre Erfahrungen im Rahmen des Projekts „Counternarration4Counterterrorism - C4C“ und widerlegen so durch ihre Tatsachen- und Erfahrungsberichte extremistische Narrative.
Der Wiener Kinder- und Jugendanwalt Erkan Nic Nafs ist mit seiner Institution Teil des WNED. Er berichtete von der guten Zusammenarbeit im Netzwerk. „Alle Beteiligten können Know-how und Wissen austauschen und auch vor Ort nutzen. Es geht darum zu informieren, zu stärken und Input für die alltägliche Arbeit zu schaffen“, sagte Nik Nafs. Der Erfolg des Netzwerks liege darin, dass allen Beteiligten – von Lehrer*in oder Schulpsycholog*in bis hin zu Polizei oder Arbeitsmarkt-Service-Betreuer*in die Werkzeuge in die Hand gegeben würden, um Radikalisierung zu erkennen und zu bekämpfen, so Nik Nafs. Die Pandemie hätte vor allem den internationalen Austausch in Sachen Deradikalisierung kurzzeitig eingeschränkt, inzwischen hätte sich der Austausch ins Netz verlagert. In Wien hätte das WNED neue Schwerpunkte gesetzt, die aktuellen Entwicklungen geschuldet sind. „Einerseits setzen wir einen Fokus auf Burschenarbeit und problematische Männlichkeitsbilder. Auch das Thema Verschwörungstheorien rund um Corona beschäftigt uns“, sagte Nik Nafs. Einen weiteren Schwerpunkt setzt insbesondere die Kinder- und Jugendanwaltschaft beim häuslichen Unterricht von Kindern. „Wir haben einen Anstieg beobachtet bei Kindern, die vom Unterricht in der Schule abgemeldet werden“, sagte Nik Nafs. Dem gelte es entgegenzuwirken: „Wir wollen Isolation von Kindern und Jugendlichen verhindern.“
Trotz allem Erfolg könne Präventionsarbeit nicht jeden Terroranschlag verhindern, waren sich Stockhammer und Nik Nafs einig. „Der 2. November hat uns zurückgeworfen, emotional“, sagte Nik Nafs. „Dann haben wir weitergemacht und geschaut, wo können wir besser werden? Wo können wir Warnsignale besser erkennen und mit unserer Arbeit ansetzen?“ Anzusetzen sei laut Terror- und Radikalisierungsforscher Stockhammer und Kinder- und Jugendanwalt vor allem beim Strafvollzug als Ort der Radikalisierung und beim Angebot der Ausstiegsprogramme nach einer Haft. Hier gebe es noch Lücken, so die Experten. „Die Stadt ist beim Terror an beiden Enden des Spektrums aktiv – bei der Prävention und bei der Krisenbewältigung, wenn es tatsächlich zu einem Anschlag kommt. Die Betreuung von Gefährdern liegt irgendwo dazwischen und ist Aufgabe des Bundes“, fasste Magistratsdirektor-Stellvertreter und im Magistrat für Sicherheitsagenden zuständige Wolfgang Müller zusammen.
Quelle: Stadt Wien