Wien: Vizebürgermeister Wiederkehr mahnt „Geschichte muss unsere Lehrerin sein“
Novemberpogrom-Gedenken bei Humboldttempel-Mahnmal in Favoriten
Bezirksvorsteher Marcus Franz und die Interreligiöse Dialoggruppe Favoriten luden heute Abend am Mittwoch, den 9.November 2023, zur Gedenkveranstaltung am Humboldtplatz anlässlich des Novemberpogroms und der Zerstörung der Vereinssynagoge des Israelitischen Tempel- und Schulvereins ein. Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr sprach einleitende Worte und ermahnte zur Wachsamkeit:
„1938 wurden Jüd*innen in der Nacht vom 9. zum 10. November ermordet, ihre Geschäfte wurden geplündert, Wohnungen verwüstet und Synagogen angezündet. ‚Pogrom‘ bedeutet ‚Verwüstung‘. Verwüstet wurde auch die Menschlichkeit. Es war der Beginn eines schrecklichen Zeitalters. Die Geschichte muss unsere Lehrerin sein. Mahnmale, wie das Glasmodell des Humboldttempels, der damals das Zentrum jüdischen Lebens in Favoriten war, sind ein Beispiel für eine aktive Erinnerungskultur, die unsere Stadt dringender braucht denn je.“
Die Novemberpogrome 1938 leiteten einen düsteren Übergang ein – von der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung hin zur systematischen Verfolgung, Vertreibung und schließlich zur Vernichtung.
Insgesamt starben während des Novemberpogroms in Deutschland mehr als 1.300 Menschen, rund 30.000 Jüdinnen und Juden wurden verhaftet oder in Konzentrationslager verschleppt. In Österreich – überwiegend in Wien – starben 30 Jüd*innen, rund 6.500 wurden verhaftet, knapp 4.000 von ihnen kamen ins KZ Dachau. Alleine in Wien wurden 42 Synagogen in Brand gesteckt und verwüstet.
Bezirksvorsteher Marcus Franz: „Dass sich antisemitische Vorurteile – vor allem durch den Einfluss von Sozialen Medien – wieder in unserer Gesellschaft verbreiten, ist schockierend und gehört in aller Deutlichkeit verurteilt. Angriffe auf jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, ihre Bräuche und ihre Gedenkstätten sind inakzeptabel. Insbesondere aufgrund unserer belasteten Vergangenheit sollte das Versprechen 'Wehret den Anfängen!' umso entschiedener gelten. Wir sehen zunehmend, dass in unserem Land rote Linien überschritten werden und politische Kritik immer öfter eine antisemitische Richtung annimmt – das dürfen wir nicht tolerieren. In dieser Zeit stehe ich felsenfest an der Seite unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger."
Nach Vizebürgermeister Wiederkehr und Bezirksvorsteher Marcus Franz hielten Shoshana Duizend-Jensen, Historikerin und Vertreterin des Rabbinats der Israelitische Kultusgemeinde, Dechant Pfarrer Matthias Felber und Imam Ramazan Demir Gedenkansprachen. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von der Vienna Royal Philharmonic.
Die Historikerin Shoshana Duizend-Jensen sprach über die erschreckende Aktualität, die mit dem Wort "Pogrom" verbunden ist, stehen die jüdische Gemeinde und ihre Freunde angesichts des Massakers vom 7. Oktober in Israel doch noch immer unter Schock. Sie erinnerte an das blühende Leben von Jüd*innen 10. Bezirk, dass mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein grausames Ende nahm und übermittelte Augenzeugenberichte der Zerstörung der Synagoge Humboldtgasse am 10. November 1938.
Dechant Pfarrer Matthias Felber erinnerte während des Gedenkens auch an die Relevanz des interreligiösen Dialogs: “Unsere unterschiedlichen Traditionen halten uns dazu an, selber wachsam zu sein und zugleich als Wächter*innen zu fungieren. Dabei dürfen wir niemals schweigen, sondern müssen stets für Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung eintreten.“
„Ich bin gekommen, um nicht zu vergessen, was damals hier geschah und um ein Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus jeglicher Art zu setzen. Fremdenfeindlichkeit und blinder Gehorsam waren vor allem die Beweggründe, warum Menschen diese Synagoge geplündert und zerstört haben. Daher müssen wir uns heute und morgen immer daran erinnern, was hier passiert ist, und dass so etwas nie wieder passieren darf! Wir müssen genau hinschauen, wenn Extremisten, egal welcher Religion, Kultur, Ethnie oder politischer Gesinnung auch immer Hass säen, wie der Rechtsextremismus, der für all die Gräueltaten hier verantwortlich war!“, appelliert Imam Ramazan Demir in seiner Ansprache.
Über das Denkmal für den zerstörten Humboldttempel
Seit 2017 erinnert im Humboldtpark in Favoriten ein Denkmal an die 1938 während des Novemberpogroms zerstörte Synagoge. 700 Menschen fanden in dem Tempel einst Platz. Das Denkmal befindet sich gegenüber dem historischen Standort der Synagoge, dem Haus Humboldtplatz 7. Es wurde von der Künstlerin Barbara Asimus geschaffen. Ein Glasmodell zeigt die Außenansicht und die Umrisse des Tempels in kleinem Maßstab. Auf den Sockelseiten sind zwei Inschriften zu lesen: „Humboldttempel 1896-1938. Zerstört in der Pogromnacht 10.11.1938“ und „Niemand hat das Recht zu gehorchen. (Hannah Arendt)“.
Gelebter interreligiöser Dialog im 10. Bezirk
Die Interreligiöse Dialoggruppe Favoriten ist ein Zusammenschluss von Vertreter*innen christlicher Pfarrgemeinden und Orden, muslimischer Moscheen und Kultusgemeinden sowie einer Bahai Gemeinde in Favoriten. Neben Veranstaltungen wie das Gedenken an die Pogromnacht organisierte die Dialoggruppe in den vergangenen Jahren Friedensgebete und Exkursionen zu unterschiedlichen religiösen Einrichtungen und Institutionen. „In Favoriten engagieren sich die unterschiedlichen religiösen Orden, Vereine und Gemeinden für ein gutes Zusammenleben und einen regen interreligiösen Austausch. Dieser Einsatz für die Gemeinschaft zeigt, dass uns trotz unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse mehr eint als trennt“, sagt Stefan Almer, Regionalstellenleiter der Abteilung Integration und Diversität der Stadt Wien, die in fünf weiteren Bezirken bei interreligiösen Foren mitwirkt.
Aktive Erinnerungskultur durch Schüler*innen
Vizebürgermeister und Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr erinnerte im Zuge der Gedenkveranstaltung auch an ein aktuelles Projekt der Erinnerungskultur in Favoriten: Die Bildungsanstalt für Elementarpädagogik 10 (Bafep10) arbeitet seit 2022 an dem internationalen Projekt „Bafep goes Europe“ gemeinsam mit dem Rosa-Luxemburg-Gymnasium in Berlin. Zum einen wurde ein digitaler Gedenkweg geschaffen, der es den Menschen ermöglicht, die jüdische Geschichte von Favoriten näher kennenzulernen. Zum anderen wurde ein Gedenkstein errichtet, der als Symbol für die Erinnerung an die Opfer des Antisemitismus und antidemokratischer Tendenzen dient. Diese beiden Projekte sind beeindruckende Beispiele für die aktive Erinnerungskultur und den Kampf gegen Antisemitismus, die im Mittelpunkt des Vorhabens stehen.
Quelle: Stadt Wien